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Draußen heult der Wind, innen pfeift der Kessel
Im Winter ist die ostfriesische Insel Langeoog eine Oase der Ruhe

Angenommen, man ist vom Alltag erschöpft. Von Lärm, Hektik und Stress, von schmuddeligen Straßen, schlechter Luft und Husten aus allen Kehlen. Diesen Widrigkeiten kann man sich auf verschiedene Weisen zu entziehen suchen: Im Bett bleiben. Hoffen, dass bald Frühling wird. Oder sich für ein paar Tage davonstehlen, auf eine Nordseeinsel, wo um diese Jahreszeit gewiss kaum jemand die winterliche Stille stört.
Auf Langeoog schneie es niemals, hatte der Inhaber der Pension am Telefon versichert. Das sei eine der Eigenarten, durch die sich die Insel von ihren ostfriesischen Nachbarn so deutlich unterscheide. Tatsächlich ist die Schneedecke auch allenfalls fünf Zentimeter hoch, aber sie liegt auf einer tückischen Eisschicht, die die Passagiere der Fähre im Schneckentempo zur Inselbahn balancieren lässt. Die meisten sind Insulaner, die vom Ausflug aufs Festland zurückkommen. Ihnen kommt Langeoog in der schneeweißen Dunkelheit des Winterabends fast so fremd vor wie der Handvoll Urlauber, die sich unter sie gemischt hat. Im Dorf ist Endstation. Gepäck wird ausgeladen, Hunde und Kinder purzeln durcheinander, dann rutschen alle in verschiedene Richtungen davon, und das Gemurmel über die ungewöhnlichen Schneefälle verliert sich in der kalten Luft.
Von nun an wird es nicht mehr laut. Nur, wenn die Inselbahn sich in Bewegung setzt, um Menschen, Waren und Zeitungen vom Hafen abzuholen, wird das Zentrum minutenlang geschäftig. Ansonsten ist in den nächsten Tagen hauptsächlich das eine oder andere im Vorüberradeln hervorgestoßene "Mojn" zu hören. Das aber überall. Radfahren darf man jetzt, anders als zwischen März und Oktober, zu jeder Tageszeit auch auf den Hauptstraßen im Dorf. In der Saison dagegen werden dort fahrradfreie Zonen ausgewiesen, weil die meisten der jährlich 100.000 Gäste in den Sommermonaten auf das Inselchen drängen - ihre Fahrräder würden, hintereinander abgestellt, vermutlich knapp bis zum Mond und zurück reichen. Doch wer jetzt radelt, stellt keine Gefahr dar für die paar Fußgänger. Autos sowieso nicht, denn die gibt es hier nicht. Gäste sind rar, die Insulaner selbst auf Lanzarote oder mit dem Renovieren ihrer Häuser beschäftigt. Das Kino ist zu, das touristische Animationsprogramm von Wattwanderung bis Nachtleben setzt aus.
So kann Langeoog im Winter in aller Abgeschiedenheit seine Trümpfe ausspielen. Es sind einige, auch wenn Schnee meist nicht dauerhaft dazugehört. Aber da wäre die womöglich höchste natürliche Erhebung Ostfrieslands. Zumindest soll die Melkhörndüne das mit der beachtlichen Höhe von 21,3 Metern mal gewesen sein. Doch in den vergangenen Jahren nagten Wind und Wetter an ihr, so dass sie peniblen Messungen zufolge jetzt zehn Zentimeter unter der Zwanzig-Meter-Marke verharrt. Zum Bergsteigen taugt das so oder so nicht, aber da auch die Umgebung das Auge nicht durch Hügel beunruhigt, kann man, wenn man nach oben spaziert ist, von dort nachsehen, wer so alles unterwegs ist auf Langeoog. Auch zeigt sich, woher die wie ein Bumerang geformte Insel ihren Namen hat: das lange Eiland. Und schließlich öffnet sich von hier oben ein guter Blick auf ihre einstige Bruchstelle.
Nicht immer waren die Ostfriesischen Inseln nämlich freudvolle sommerliche Sandkästen für Familien und heimelige winterliche Verstecke für Gestresste. Früher war das Leben hier bestenfalls unbequem, schlimmstenfalls lebensgefährlich. In der Weihnachtsnacht des Jahres 1717 forderte eine gewaltige Sturmflut an der gesamten Nordseeküste 20.000 Todesopfer. Langeoog wurde in jener Nacht zweigeteilt - die Flut brach östlich der Melkhörndüne ins Land, zerstörte Kirche und Häuser und ließ nicht viel mehr als zwei unbewohnbare sandige Flecken im Meer zurück. Wer überlebt hatte, ging zurück aufs Festland - die letzten Bewohner vier Jahre nach der Katastrophe, als eine weitere Sturmflut die Insel heimsuchte und mit Teilen der Dünen auch den Pioniergeist dieser verbliebenen Langeooger davon spülte.
Solche Szenarien sind heute selbst an einem stürmischen Wintertag nur noch schwer vorstellbar. Dass die Gefahren der Nordsee trotzdem noch fest in den Köpfen der Einwohner verankert sind, beweist die Inselkirche. Über dem Altar hängt dort ein Bild, das in kalter Klarheit einen Schiffbruch darstellt. Unmittelbarer aber ist die Gefahr der Erosion. Doch seit rund 200 Jahren wird alles unternommen, um jedes Sandkorn auf der Insel zu halten. So sind die Risse in den Dünen längst geschlossen. Auf neunzehn Quadratkilometern streckt sich Langeoog, der vierzehn Kilometer lange Sandstrand wird an keiner Stelle mehr unterbrochen. Viel Platz also zum Herumlaufen. Bis zum Hafen, am Watt entlang, oder, von der Melkhorndüne aus, am Strand weiter in Richtung Osten. Auch dort sind wenig Leute unterwegs, dafür sieht man gelegentlich eine planschende Robbe. Und hört die Möwen schreien. Wer dem "Falkenweg" in die Dünen folgt, trifft auf der Wattseite auf die Meierei Ostende. Gänse, Pferde und Enten laufen dort herum. Fahrradständer und die hölzernen Tische und Bänke vor dem Bauernhaus lassen darauf schließen, dass das hier im wärmeren Teil des Jahres ein Ausflugsort ist. Jetzt ist natürlich alles geschlossen, und niemand winkt mit Grog oder anderen belebenden Heißgetränken. Da hilft kein Jammern, das hier ohnehin niemand hört - es bleibt nichts, als weiterzulaufen bis zum Osterhook, dem östlichsten Punkt der Insel, wo es dann wirklich nicht mehr weitergeht. Hier kann man nach Spiekeroog hinüberschauen, Möwen und Muscheln zählen, und den Gedanken an den elf Kilometer langen Rückweg noch ein bisschen wegschieben.
So mondän wie etwa Sylt sind die ostfriesischen Inseln alle nicht. Doch im Vergleich zum rummeligen Norderney oder dem recht schicken Juist ist Langeoog trotz seiner 2100 Einwohner - Spiekeroog hat nur 700 - eine der ganz bodenständigen Inseln. Und wie überall, wo es schön ist, glitzert auch hier ein bisschen Glamour. Lale Andersen wurde zwar 1910 in Bremerhaven geboren und starb 1972 in Wien. Doch ihr Grab liegt auf Langeoogs Dünenfriedhof, nur ein paar Meter entfernt vom "Sonnenhof", ihrem reetgedeckten Domizil an der Straße mit dem schönen plattdeutschen Namen Gerk-sin-Spoor (der daran erinnert, dass Gerk Albers hier um 1900 Strandgut heimholte). Heute ist im Sonenhof eine Teestube, die im Winter allerdings nur in Notfällen öffnet - etwa anlässlich von Begräbnissen. Das ruft die Vergeblichkeit allen Tuns in Erinnerung, so dass man fast "Lili Marleen" summen möchte auf dem Weg zurück ins Dorf, obwohl die Sängerin selbst hier vermutlich häufiger "Ich schick' dir eine Prise Sand vom schönen, weißen Nordseestrand" pfiff.
Nach Stunden am Strand und in einsamer Dünenlandschaft ist es dann richtig nett, im Dorf wieder Menschen zu begegnen. Fast glaubt man sie bereits alle vom Sehen zu kennen. Sie sammeln sich in Restaurants und Cafés - das eine oder andere ist tatsächlich geöffnet. Außer Ganzjahresspezialitäten wie Krabbenrühreier und Labskaus (ein unheimlich aussehendes, dennoch genießbares Gericht aus durch den Wolf gedrehten Salzheringen, Zwiebeln, Roter Beete und Fleisch, begleitet von Kartoffeln und Spiegelei) gibt es dort in den Monaten mit "r" auch - weiterer Vorteil der kalten Jahreszeit - Muscheln in unterschiedlichen Darreichungsformen.
Das ist alles sehr entspannend, und auch Winterabende auf Langeoog verlangen Erholungssuchenden nicht viel ab. Am späten Nachmittag schon wird es Nacht. Die Restaurants schließen früh, die Straßen liegen still, abendliche Zerstreuung erschöpft sich nicht selten in einer Probe des örtlichen Gesangvereins. Draußen heult der Wind, der hier nach Meer riecht und dem Zeug, das am Strand am Spülsaum liegt. Innen pfeift der Teekessel. Um neun Uhr scheint es schon sehr spät. Einzig die Rastlosigkeit des minderjährigen Wirtssohns lässt ahnen, dass die Weltabgeschiedenheit auf Dauer belastend werden kann. Mit einem Abreisedatum im Nacken wirkt sie belebend wie ein heißer Grog nach stürmischem Tag.


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